„Kungelrunden“ oder Volksentscheid?
In den vergangenen Wochen ist unter Ökonomen wie Politikern ein erbitterter Streit über die Euro-Rettungshilfen ausgebrochen. Einige Kläger sind in Deutschland vor das Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe gezogen. Sie sehen die Rechte des deutschen Volkes und seiner Vertreter im Bundestag gefährdet, selbst zu kontrollieren, was der deutsche Staat wofür ausgibt.
Das Haushaltsrecht gilt als das „Königsrecht“ des Parlamentes. Der Bundestag hat die Befugnis zu entscheiden, für welche Bereiche das Geld ausgegeben werden soll. Dieses Recht wird nunmehr als gefährdet angesehen.
Die Kläger sehen insbesondere die Risiken, die Deutschland mit den Hilfen für die angeschlagenen Staaten, insbesondere den ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) sehr kritisch. Mit dem ESM sollen zahlungsunfähige Mitgliedstaaten der Eurozone finanziell - unter Einhaltung wirtschaftspolitischer Auflagen - mit Krediten der Gemeinschaft der Euro-Staaten unterstützt werden. Am 9. Dezember 2011 haben sich die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, auf einen „Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion“ geeinigt.
Der ESM umfasst ein Volumen von 700 Mrd. Euro, wobei erwogen wird, das Volumen zu erhöhen. Insgesamt 80 Mrd. Euro werden von den Euro-Ländern bar einbezahlt. Zusätzlich haben die Euro-Länder Garantien von 620 Mrd. Euro übernommen. Insgesamt entfällt auf Deutschland ein (Haftungs-)Betrag von 190 Mrd. Euro!
Ein Problem des ESM besteht darin, dass diese 700 Mrd. Euro nicht zwingend eine Obergrenze darstellen. Das Vertragswerk erlaubt eine Erhöhung des Volumens. Der so genannte Gouverneursrat kann dies beschließen. Der Gouverneursrat wird aus für Finanzen zuständigen Vertretern der ESM-Mitgliedsländer gebildet. Sollte sich das Volumen erhöhen, erhöht sich entsprechend der Haftungsanteil von Deutschland, der rd. 27 % beträgt.
Viele Ökonomen und Politiker warnen deshalb, dass der ESM für Deutschland „ein unkalkulierbares Abenteuer“ darstelle.
Deutschland übernehme de facto die Gewährleistung für die Schulden anderer Eurostaaten. Diese Haftungsgarantie werde Deutschland zusätzlich auch insofern treffen können, als befürchtet wird, dass die großen Ratingagenturen Deutschland, dessen finanzwirtschaftliche Lage vergleichsweise gesund ist, schlechter benotet und somit höhere Zinsen zahlen muss, will es zukünftig Kredite aufnehmen.
Kritisiert wird die Höhe der Risiken, die Deutschland eingeht aber auch das Verfahren, wie es zu den Hilfen und dem ESM-Vertrag gekommen ist. Durch „Kungelrunden“ (verstanden als inoffizielle Absprachen einiger weniger Politiker „außerhalb des Protokolls“) der europäischen Regierungschefs und der Minister wurden die gegenseitigen Hilfen ausgehandelt. Das deutsche Volk bzw. das Parlament wurde nicht einbezogen. Zudem tritt der Bundestag Zuständigkeiten im Bereich des Bundeshaushaltes an ein nicht durch direkte Wahlen legitimiertes Gremium (Gouverneursrat) ab.
Das Bundesverfassungsgericht hat am 19. Juni 2012 die Rechte des deutschen Parlaments bei der Euro-Rettung gestärkt. Es führte aus, dass „die Bundesregierung bei den Verhandlungen über den permanenten Euro-Rettungsschirm ESM den Bundestag nicht ausreichend informiert“ habe, entschieden die Richter über eine Klage der grünen Bundestagsfraktion. Die Bundesregierung müsse die Abgeordneten eher einbeziehen. Das Gericht stützte sich auf Artikel 23 des Grundgesetzes, in dem es unter anderem heißt: „In Angelegenheiten der Europäischen Union wirken der Bundestag und durch den Bundesrat die Länder mit. Die Bundesregierung hat den Bundestag und den Bundesrat umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten. „Kungelrunden“ europäischer Spitzenpolitiker allein wären demnach nicht ausreichend.
Am 27. Juni 2012 hat der Haushaltsausschuss den Gesetzentwürfen der Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP zum Vertrag vom 2. März 2012 zugestimmt. Der Bundestag entschied am 29. Juni 2012 über den europäischen Fiskalpakt und den ESM. Das Bundeserfassungsgericht wurde wieder eingeschaltet. Auf Grund der insgesamt fünf angekündigten Klagen beim Bundesverfassungsgericht ließ der Bundespräsident Gauck verlautbaren, beide Verträge erst nach Prüfung der Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht ratifizieren zu wollen. Die Bundesregierung sieht den ESM (und den Fiskalpakt) lediglich als eine weitere Rettungsaktion an, die den Euro sichern soll.
Im Kern geht es um die Frage, ob der dauerhafte Rettungsfonds Europa fundamental verändere, wie dies einige Kläger sehen. Der ESM verwandele die EU in eine Haftungs- und Transferunion. Wenn innerhalb der Währungsunion die nationale Haushaltautonomie der Parlamente gewährleistet bleiben sollte, dürften diese Haushalte nicht einem europäischen Haftungsautomatismus unterworfen werden. Würde sich die Krise verschlimmern, müsste Deutschland für mehr haften, ohne dass das deutsche Parlament einen Einfluss darauf hätte. Das Parlament wäre diesbezüglich handlungsunfähig.
Ein Beispiel bei dem Politiker die Abmachungen der Kungelrunden nicht so einfach hinnahmen, ist in der Slowakei zu finden. Der Rettungsschirm konnte erst nach der Zustimmung der Slowakischen Republik (dem 17. Euro-Land) in Kraft treten. Doch am ersten Votum war die slowakische Regierungskoalition zerbrochen. Dort hatte Premierministerin Iveta Radicova die EFSF-Abstimmung in letzter Minute mit einer Vertrauensfrage verbunden, somit die Initiative ergriffen und ist daran letztenendes gescheitert. Die Konsequenz war, dass die sozialdemokratische größte Oppositionspartei Smer von Ex-Premier Robert Fico zwar prinzipiell für die EFSF-Erweiterung war, aber nur dann für eine Ja-Mehrheit sorgen wollte, wenn die damalige Regierung zurücktrete, um den Weg für vorgezogene Neuwahlen frei zu machen. In den letzten Jahren sind mehrere Regierungen verschiedener EU-Länder abgewählt worden.
Viele Politiker bzw. Gruppierungen gehen noch einen Schritt weiter, Sie argumentieren, dass nicht nur das Parlament, sondern die Bürger selbst mehr einbezogen werden sollten. Sie würden „außen vorbleiben“, wenn im Zuge der Eurorettungspolitik immer mehr Kompetenzen auf die EU-Ebene verlagert werden. Die Demokratie in der EU sei gefährdet, in der wichtige Entscheidungen zunehmend von einer kleinen Gruppe mächtiger Politiker gefällt werden, ohne das Volk zu befragen (und unter Umgehung des Europäischen Parlamentes). Sie fordern bundesweite Volksentscheide. Erst wenn die Bürger diesen Rettungsmaßnahmen zustimmen würden, dürfen die Verträge ratifiziert werden. Volksentscheide werden unterschiedlich beurteilt. Gängige Argumente dafür und dagegen sind:
• Volksentscheide fördern die Einstellung zur Demokratie und wirken der zunehmenden Politikverdrossenheit entgegen.
• Gegen direkte Demokratie spreche, dass sie in der Entscheidungsfindung langsamer und teurer sei. Gerade bei den Rettungsmaßnahmen müsse schnell gehandelt werden..
• Ein weiterer Nachteil wird in der Abhängigkeit von den Medien gesehen. Die Medien können die Bevölkerungsmeinung stark und schnell beeinflussen, wenn sie ein aktuelles Thema in Form einer Kampagne ausführlich bearbeiteten.
• Direkte Demokratie bewirke automatisch eine Abwertung des Parlaments und könne Populismus (durch die Medien) und Polemik fördern.
• Die Bürger hätten oft nicht den nötigen Sachverstand und die nötige emotionale Neutralität, um komplexe politische Probleme zu bewältigen.
Wie ist eure Meinung, sollten vermehrt Volksentscheide allgemein und speziell zu den Euro-Rettungsmaßnahmen eingesetzt werden?